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Post #185: Der Widerspruch zum Widerspruch [German]

  • Writer: Daniel Pellerin
    Daniel Pellerin
  • Dec 10, 2022
  • 8 min read

Updated: Jun 18

6. Juni 2025

 

     Die Pflege der Meinungsvielfalt hat es nicht leicht. Zum einen widerstrebt sie seit jeher dem menschlichen Gefühl, es besser zu wissen, und somit anderen oktroyieren zu dürfen, was sie denken sollen oder müssen. (Und dies in der Regel auch noch mit einem Gefühl der tugendhaften Überlegenheit, manchmal bis die Köpfe rollen.) Soweit nichts Neues unter der Sonne.

     Zum anderen scheinen selbst die Weltteile in denen der freie Meinungsaustausch bis vor kurzem als besondere historisch-kulturelle Errungenschaft verstanden wurde, inzwischen das Unbehagen in der Diskussionskultur entdeckt zu haben. Das ist zwar auch nicht ganz neu, aber trotzdem eine bemerkenswerte Wendung gegen Kerntraditionen (man denke vor allem an Großbritannien und die Vereinigten Staaten), die bis vor kurzem noch als bezeichnend galten. Das Bild, das sich uns in den 2020ern in dieser Hinsicht bietet ist kompliziert, verwirrend und manchmal nachgerade verstörend, zumal wenn man sich noch vor zehn oder fünfzehn Jahren in einer gründlich anderen geistigen Welt wähnte.

     Heute reibt man sich die Augen und kann es kaum fassen, wie auch und gerade in den ehemaligen Hochburgen der Meinungsfreiheit scheinbar selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass man für Äußerungen verantwortlich gemacht und für schuldig befunden werden kann (oder sogar muss), obwohl man nicht mehr getan haben mag, als lediglich deren Darstellung zuzulassen. Das besonders tiefsinnige zweite Kapitel in John Stuart Mills On Liberty, in dem er auf unvergessliche Weise darlegt, warum wir alle ein dringendes Interesse am Dissens haben, selbst wenn er uns auf den ersten Blick als nur ärgerlich (oder gar verwerflich) erscheint, taugte zugegebenermaßen noch nie zur Massenlektüre. Ich stand schon in den 90ern und frühen 2000er-Jahren immer wieder ziemlich alleine da, wenn ich dieses Kapitel hochgehalten habe, nachdem es mich als junger Student in England besonders tief beeindruckt und geprägt hat. Nur musste man um damals im englischsprachigen Raum kontrovers zu wirken schon regelrechte Neonazis und ziemlich offensichtliche Spinner als Beispiele bemühen. Das ist heute allenthalben anders.

     Die Deutschen waren der Entwicklung mal wieder voraus mit ihrer Nazikeule; aber das hatte wenigstens historische Gründe, die nicht ganz von der Hand zu weisende sind. Heute kann der Morgenstern schon beim leisesten Misston zum Einsatz kommen, und das gerade in Kulturkreisen, wo die Meinungsfreiheit einmal an erster Stelle stand (man denke an Berkeley, worauf ich gleich noch einmal zurückkommen werde). Das ist schon allerhand und sollte nachdenklich machen, denn die Keulentaktik kann letztlich nur dazu führen (wie man bei Mill gut nachlesen kann), dass man im Urteil unausgewogen wird, weil wichtige wiewohl unangenehme Aspekte vernachlässigt werden, und dass diejenigen, die nicht zu Helden oder Märtyrern taugen (also die meisten) zu Ängstlichkeit verleitet und erzogen werden. Die festgelegte Opposition taucht ab oder wird laut und randlastig; die Masse verstellt sich; die ehemals Mutigeren verlässt die Courage; und wo einst echtes Ringen um die Annäherung an schwer zu greifende Wahrheit stattgefunden hat, triumphiert am Ende der ideologische Gruppengeist, während in den Nischen die wüstesten Fantasien ihr Unwesen treiben. Die werden nämlich von der Leitkultur nicht mehr aufgegriffen und wuchern entsprechend unangefochten.

     Derweil greift eine allgemeine Verunsicherung um sich und führt in der Reaktion zu allerlei schrägen Gegenmitteln. Die Realität mag nach wie vor für alle gelten, aber die Wahrnehmung zerfasert derweil immer radikaler, wird gänzlich unübersichtlich und verläuft sich in die abwegigsten Winkel. Als Folge stellt sich eine entsetzliche Verwirrung ein, die nicht weniger abgründig wird, weil sie als solche vielleicht noch nicht einmal mehr erkannt wird. Auf einmal ist es schon fast salonfähig zu meinen, die Welt würde von außerirdischen Reptilien in Menschenform regiert, oder die Finanzen liefen mal wieder in den Händen der Weisen von Zion zusammen. Wer gedacht hätte, wenigstens die Weltkriege seien ein relativ gesicherter und gefestigter historischer Bestand, wird schnell eines besseren belehrt: die Theorien, die man dazu dieser Tage im Brustton der Überzeugung zu hören bekommt, sind manchmal schlicht unfassbar.

     „Da haben Sie’s!“ heißt es dann vielleicht: „Dazu führt die ungeordnete Meinungsfreiheit!“ Aber ich bestreite diese Diagnose. Dahin führt nicht der Austausch im großen Stil, dahin führt das Verkriechen in Nischen, in denen man es nur noch mit Gleichgesinnten und ähnlich Verbogenen zu tun hat. (Wir sind alle verbogen, nur anders, und darin besteht oft die einzige Hoffnung, über die Verbiegungen hinauszukommen.) Das ausufernde kognitive Chaos lässt sich mit harter Hand und von oben überhaupt nicht greifen, geschweige denn bereinigen, dazu ist es viel zu weitläufig, und im übrigen erreicht man den Geist mit solchen Drangsalierungsmaßnahmen nicht. Wenigstens die Gedanken sind bekanntlich frei, und bleiben es, so oder so. Man kann mit der Pauke nur die offene Diskussion kaputtmachen, mehr nicht, und damit auch die Chance, über den freien Meinungsaustausch zu besseren Schlüssen zu kommen.

     Natürlich wäre es naiv zu meinen, dass sich Meinungsfreiheit und -vielfalt nicht auch oft verrennt; das liegt in der Natur der Sache. Die Freiheit kann auch zu einem Strick werden, mit dem man sich erhängt, wie es auf Englisch heißt; aber damit ist sie noch lange nicht entwertet. Im offenen Austausch (und eigentlich nur da) sind wir wenigstens korrekturfähig und können aus unseren Fehlern lernen. Wenn man sich erst einmal verkrochen hat, und das zur Gewohnheit wird, zumal in einer Welt in der die Universitäten Richtung Ideologiefabriken tendieren (und vor allem junge Männer die ganze Veranstaltung deswegen in Scharen auslassen, was wiederum deren Bildungsstand nicht gerade zuträglich ist) und in der die Traditionsmedien an erheblicher Orientierungsschwäche leiden, dann wird es heikel, und es droht in der Tat, wie schon vor vierzig Jahren von Neil Postman prophezeit, dass wir uns zu Tode amüsieren. Witzig ist daran leider gar nichts.

     So weit so bedenklich. Aber es kommt noch ärger, denn leider sind selbst die entschiedenen Beschwörer des Widerspruchs mit ihrem Bekenntnis zur Meinungsfreiheit damit noch lange nicht verlässlich gegen die Anfechtungen gefeit, die auch dieses Credo mit sich bringt. Wo der Zweifel das Wort führt, muss nämlich auch der Zweifel zum Zweifel erlaubt sein und Gehör finden, und dieser passt den Zweiflern in der Regel auch nicht besser ins Konzept als anderen. Das gegenwärtig stark linkslastige Professoriat zum Beispiel ist ja nicht etwa aus dem Anspruch entstanden, ein alleingültiges Dogma zu etablieren, sondern kam ursprünglich aus den Wirren und Wankelmüten der 60er und 70er, man denke an Berkeley und sein Free Speech Movement. Das scheint sich inzwischen vielerorts fast ins Gegenteil umgekehrt haben: am kulturellen Machthebel angekommen haben sich die Aufbrecher kaum als nachhaltig meinungsvielfältiger oder toleranter erwiesen als die einst so verpönten, ach-so-spießigen und geschichtlich belasteten Vorgängergenerationen.

     Nichtsdestotrotz liegt mir persönlich sehr daran, zu würdigen, wie oft ich es auf meinem Weg durch eine stattliche Anzahl von Universitäten in der englischsprachigen Welt immer wieder mit dezidierten Verfechtern der 60er-Ethik zu tun hatte, die ihre eigene sehr bestimmte Gesinnung sehr wohl mit denkbar größter Toleranz gegen andere Sichtweisen verbinden konnten. Ich erinnere mich noch gut an einen durch und durch radikalen Professor, Mitte der 90er, an der UCLA: geradezu ein Bilderbuchlinker, durch und durch marxistischer Hegelianer und Psychoanalytiker, der fast mit Empörung auf meine Frage reagierte, ob er auch eine bürgerlich-liberalere Auslegung Hegels mit gutem Gewissen betreuen könne. “No political tests!” hat er geantwortet, aber es klang sehr nach “Wofür hältst Du mich bitte, dass Du mir diese Frage zu stellen müssen meinst?” (Er hat die Arbeit dann tatsächlich betreut und sein Wort vorbildlich gehalten.)

     Man bekommt fast Nostalgie bei der Erinnerung an diesen Typus der prinzipienfesten alten Linken, die nie darum scheu waren, sich aufrichtig und ernsthaft auf die andere Seite einzulassen. Heute erkennt man gerade die einschlägigsten Universitäten nach Jahren des woken Wahns kaum wieder. Entsprechend freut man sich und ist sehr gespannt, als es vor kurzem daran geht, mit erheblichen Mitteln und Möglichkeiten einen Neustart zu wagen mit einer innovativen Neugründung, die ernst machen soll mit der inzwischen eher spärlich gesäten Meinungsvielfalt im realexistierenden Akademismus. Und dabei stößt man schnell auf einen frappierenden Befund: wo die unbedingte Breite des Spektrums besonders beschworen wird, scheint sich die Verteilung vor allem in die andere Richtung verschoben zu haben, während sich die Spannweite eher noch weiter verkürzt hat! So zählt man geschlagene acht Politphilosophen einer einschlägigen Denkschule (bei einer Gesamtzahl von gerade mal dreißig) und fühlt sich fast an die Stoßtruppen der Gegenreformation erinnert—meinungsstarke Dissidenten gegen den Zeitgeist, mag sein, aber unter einander erstaunlich einig, was die Essentials angeht. Sieht so die echte, die wahre Vielfalt aus? Das könnte man zu bezweifeln wagen.

     Nur agieren die Betreffenden, wie viele Linke auch, selbstverständlich in der festen Überzeugung, nicht nur die richtige Sache zu befördern, sondern dazu die Meinungsfreiheit durch ihr Tun ausgesprochen zu begünstigen. Wie passt das zusammen? Vielleicht sind und bleiben wir Gruppentiere und merken schlicht nicht, wie oft wir dem Herdentrieb verfallen. Oder hat es etwas damit zu tun, wie genuin schwierig es ist, nicht nur von der These zur Gegenthese zu kommen, sondern dann auch noch zur Gegenthese der Gegenthese und so weiter? Der Gedanke, dass hier Dialektik im Spiel sein könnte, liegt nahe ob man mit Hegel und Marx etwas am Hut hat oder nicht; das Prinzip kannten ja schon die alten Griechen, Platon allen voran. Die altmarxistische Linke erscheint im Nachhinein insofern in einem interessanten Licht, als sie bei allen blinden Flecken doch eine ganze Menge von Dialektik verstanden, und das oft auf einem intellektuellen Niveau, an dem es uns heute oft gebricht. Die Präsenz des Klassenfeindes, dem man seinerzeit auf allen Wegen zu begegnen meinte, war jedenfalls immer auch eine geistige Herausforderung, und nicht nur ein vermeidbares Ärgernis. Die Linke war damit sicher nicht toleranter als heute, aber sie war allemal diskussionsfreudiger und ausdrücklich stolz darauf, keiner verbalen Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen.

     Daraus soll jetzt kein Lobgesang auf die alte Linke werden, von der ich mich schon in Jugendjahren verabschiedet habe; es geht mir nur darum, auf ein schwieriges Problem hinzuweisen, das uns umtreibt, und das wir im Moment nicht in den Griff zu bekommen scheinen, hüben wie drüben. Dass es in der großen weiten Welt eine riesige Spanne von Meinungen zu jedem erdenklichen Thema gibt, ist wohl weder zu bestreiten noch zu korrigieren, selbst wenn man es wollte. Aber wie soll man damit institutionell umgehen? Wie immer man vorgeht, irgendwie muss man schließlich ordnen und auswählen, und dabei ist fast unausweichlich, dass einem die eigenen Ansichten (oder wesensverwandte) eben nicht nur korrekter vorkommen, sondern in der Regel auch klüger und anderweitig hochwertiger. Und bevor man sich‘s versieht ist aus den Widerspenstigen schon ein kleiner Chor geworden, in dem es natürlich immer noch eine gewisse Stimmenverteilung geben muss, aber eben auch eine Grundharmonie, die der Musik zuträglich sein mag, aber der Einsicht womöglich nicht.

     Ich habe keine wirklich gute Antwort auf diese brenzlige Kultur- und Gemütslage. Ich weiß nur, dass mich die Sorge um unsere Diskussionsfähigkeit umtreibt, und ich bemerke mit Bedrückung, dass es selbst dann nur bedingt zu klappen scheint, wenn man sich das Prinzip in leuchtenden Farben auf die Fahnen geschrieben hat. Dabei unterstelle ich keine Heuchelei, denn damit wäre ja gesagt, dass sich das Problem leicht lösen ließe, wenn man nur wollte, und dass man es stattdessen bewusst unterlässt, zu tun worauf man sich so lautstark verpflichtet hat. Aber diesen Vorwurf mache ich niemandem, sondern konstatiere nur, dass es uns anscheinend selbst dann noch überfordern kann wenn wir uns der Problemstellung vollends bewusst sind und wir redlich darum bemüht sind, es besser zu machen. Es handelt sich wohl wirklich um eine Errungenschaft, die immer wieder neu gewonnen werden muss.

     Wir sind eben fehlbare Wesen, aus Holz geschnitzt, das zu krumm ist, als dass jemals etwas ganz gerades dabei herauskommen könnte, wie es Kant einmal formuliert hat (und das Buch Kohelet lange vor ihm). Es ist schon viel, auch nur Problembewusstsein zu entwickeln und den Versuch eines Bessermachens zu unternehmen. Wieviel daraus am Ende wird oder gar werden kann, steht auf einem anderen Blatt, und das gilt leider für jeden—für den einzelnen wie auch für unsere Institutionen, vor allem in unseren alten wie neuen Medien und Bildungseinrichtungen. Manche mögen im Vergleich deutlich besser abschneiden als andere, aber es ist kein leichter Weg dahin. Man kann sich nur immer wieder darum bemühen, mit wachen Augen sowohl dem Glauben als auch dem Zweifel gegenüber (und dem Zweifel am Zweifel zudem)—vor allem aber mit einem großen Herzen, wie es Roger Köppel in seinem Editorial („Es lebe der Widerspruch!“) in der Weltwoche vom 22. Mai so treffend umschrieben hat.

 
 

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Daniel Pellerin

(c) Daniel Pellerin 2023

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