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Post #180: Das Schreckgespenst EU [German]

  • Writer: Daniel Pellerin
    Daniel Pellerin
  • Dec 20, 2022
  • 12 min read

Updated: Jun 18

3. November 2024

 

     Anfangen sollte man wohl damit, offen einzugestehen, dass es in der EU sicher etliche Missstände gibt, über die man sich schwarz ärgern könnte und vielleicht sogar sollte. In den frühen 90er Jahren hing—ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass Brüssel mehr Spaß versteht als man meinen sollte—ein Plakat in einem Informationsbüro zur EG-EU, irgendwo in Linden-Nähe in Berlin, ich erinnere mich nicht genau an den Ort. Das Motiv war dafür unvergesslich: „Hier baut die EG“ hieß es da, und so sah es dann auch aus, nämlich ein völlig chaotisches Gewirr von Gebäudeteilen mit verschiedenen nationalen Stilrichtungen. Eine derart gelungene Selbstparodie sieht man selten: Respekt!

     Nachdem dieses Zugeständnis allerdings vorweg gemacht ist, gilt es auch die andere, nicht weniger wichtige Front zu klären: nämlich dass sich das europäische Projekt in dieser Form hervorragend zur Projektionsfläche eignet, auf der dann praktisch alles abgeladen werden kann, was einen an den bestehenden Verhältnissen überhaupt stört, ob es mit Brüssel wirklich viel zu tun hat oder nicht (was man schon daran sieht, dass vieles was mit „Brüssel“ assoziiert wird gar nicht dort stattfindet, sondern in Luxemburg oder Straßburg oder gar Paris und Frankfurt, und dabei spreche ich nur von ausdrücklich europäischen Institutionen, nicht den vielen Grauzonen).

     Klaus Hänsch, ehemals Präsident des Europäischen Parlaments, war verständig genug, „gar nicht erst den Versuch machen, alles zu widerlegen, was an Vorurteilen und Klischees über Brüssel und Straßburg so liebevoll gepflegt wird.“ Dazu hatte er nämlich nach eigenen Angaben viel zu viel Erfahrung damit. Aber es ist auch kein Wunder, wenn die Legenden zu diesem vermeintlichen europäischen Moloch immer wilder wuchern und teilweise regelrecht ausufern, solange die Rechnung (oft eher Abrechnung) routinemäßig mit einer Art doppelter Buchführung aufgemacht wird, wie es Hänsch ausdrückt: „Wenn die liebe Sonne lacht, hat’s das eigene Land gemacht. Gibt’s aber Regen, Schnee und Sturm dazu, war es immer die EU!“ Das ist nicht weniger unabweislich als die berechtigte Kritik an den europäischen Institutionen.

     Wenn zum Beispiel gerade Deutsche oder Franzosen der EU ihr viel zu bürokratisches Wesen vorhalten, ist das fast unfreiwillig komisch, als würde einer sich über sein eigenes Spiegelbild lustig machen, obwohl es insgesamt eher vorteilhaft verzerrt. Die Frage in Europa ist meistens gar nicht, ob Bürokratie, sondern nur wer und wo: lieber Berlin und Paris, oder dann vielleicht doch lieber Brüssel, um es brutal zu sagen. Wenn man die Sache aus dieser Warte sieht, spricht einiges für Brüssel, zumal wenn man außerdem bedenkt, wie oft gerade diejenigen Wutentbrannten, die besonders heftig gegen „Brüssel“ polemisieren zu müssen meinen, besonders wenig Zielsicherheit mitbringen, wenn es um eine sachgerechte Einschätzung geht, wie gut oder schlecht die Arbeit eigentlich ist, die da im einzelnen gemacht wird. Ich behaupte keineswegs, diese heikle Frage besser beantworten zu können, sondern entschlage mich eines abschließenden Urteils und richte nicht, oder zelebriere, sondern mahne lediglich zu Mäßigung.

     Ich war selber einmal Praktikant der Kommission (im Bereich Vorbereitungen zur Währungsunion) und durfte mir aus der Nähe ein bescheidenes Bild davon machen, was hinter den gerne bemühten Zerrbildern steht—insgesamt eine eher beruhigende, manchmal sogar beeindruckende Erfahrung. Man war es dort durchaus gewöhnt, den Sündenbock für alles mögliche hergeben zu müssen und war sich auch seiner Schwächen leidlich bewusst; keiner hielt die Kommission intern für den Olymp menschlichen Schaffens. Aber man hatte auch einen ziemlich freien Blick darauf, wie die entsprechenden Prozesse in den Mitgliedsstaaten abliefen und wusste, dass dort auch nur mit Wasser gekocht wird, und zwar in der Regel keineswegs besser.

     Sicher gäbe es vieles, was man prinzipiell weniger überreguliert handhaben könnte und sollte, aber diese Vorschriftswut kommt nur oberflächlich aus Brüssel. Anhand der Gewächskrümmungen hat mir ein sehr sympathischer „Eurokrat“ einmal beim Lunch erklärt, dass es bei seiner Arbeit gar nicht darum gehe, ob der unschuldigen Bananen- oder Gurkenvielfalt ein menschliches Kategorisierungskorsett aufgezwängt werden soll oder nicht, sondern vielmehr, wie man darauf reagieren soll, dass dies auf nationaler Ebene so oder so geschieht bzw. geschehen würde, wenn man es nicht im Interesse des gesamteuropäischen Marktes regelt. Und ob das in den Mitgliedstaaten intelligenter oder zweckdienlicher gemacht würde als in Brüssel erschien ihm, wie mir, reichlich zweifelhaft.

     Von „ungewählten Eliten“ ist immer wieder in einem Ton die Rede, als sei deren Existenz an zentraler Stelle ein übler Missstand und nicht ein unausweichliches Merkmal, ja ein regelrechtes Erfordernis eines jeden einigermaßen funktionierenden modernen Gemeinwesens. Wahlen sind bestenfalls ein Mechanismus unter vielen (und zwar ein ziemlich kruder), um die Weichen dafür zu stellen, dass die zahllosen Verwaltungsaufgaben und Interessensausgleiche, die von den Bürgern ja selbst eingefordert werden, einigermaßen bewältigt werden können. Ich bin allemal kein Freund der Bürokratie, und man könnte da vieles weit weniger staats- und amtslastig lösen; aber dazu bedürfte es eines gründlichen Überdenkens dessen, wozu der Staat denn eigentlich da ist und wozu nicht. Dabei liegt das Problem nur sehr augenscheinlich auf der europäischen Ebene, und tatsächlich in einem Staatsverständnis, dass sich auch und gerade in den einzelnen Ländern seit langem verselbständigt hat. Wenn man ernsthaft entbürokratisieren wollte, sollte man damit zu Hause anfangen, wie eigentlich immer im Leben. Aber das macht natürlich ungleich weniger Spaß, als mit dem Finger auf andere zu zeigen und über die unerträglichen Verhältnisse zu politisieren.

     Die Briten haben dafür mit ihrem Ausstieg ein unfreiwillig eindrucksvolles Beispiel geliefert. Die nicht immer ganz offen eingestandene Prämisse des Projekts war schließlich, es auf der Insel politisch besser zu können als auf dem Kontinent, worüber man auch historisch in der Tat ernsthaft nachdenken könnte. Nur war es selbst für wohlmeinende Beobachter ganz und gar nicht leicht, angesichts des Spektakels etwa den Eindruck zu gewinnen, es hier mit besonders unanfechtbaren Könnern zu tun zu haben. Die altehrwürdige britische Diskussionsfreudigkeit war noch klar zu erkennen, das schon; was anderswo in ein paar Monaten vom Tisch gewesen wäre, hat somit mehrere Jahre in Anspruch genommen. Wirklich imponierend war da ansonsten wenig.

     Es mag ja gar nicht so falsch gewesen sein, die Sache auszudiskutieren, bis sie wirklich keiner mehr hören konnte; aber sonderlich überzeugend in seiner Außenwirkung konnte man das nicht nennen. Es geht sogar die Kunde, man sei in Brüssel zeitweise ernstlich besorgt gewesen, es mit einer Finte der Briten zu tun zu haben, weil die britische Verhandlungsführung als so unvorbereitet und inkompetent empfunden wurde, dass man es nicht glauben konnte. Die Brexitmannschaft wollte sich wahrscheinlich gar nicht besser auskennen; aber überzeugend wirkte das auf keiner Ebene, und allemal nicht so, dass man angesichts des British Way in seiner „effortless superiority“ dieser Tage vor Ehrfurcht ersterben müsste. Dass es einmal anders war und dass genau dies der springende Punkt ist, stimmt sicher, unterstreicht aber eher den Abstand als historische Nähe herzustellen.

     Man mag den britischen Ausstieg begrüßen oder bedauern (als jemand, der diesen vierzig Jahren widerwilligen Dabeiseins das Oxfordstudium verdankt, neige ich bei allen Vorbehalten zu letzterem), aber tragisch kann man das eigentlich nicht nennen—oder wenn doch, dann wenigstens tragikomisch. Die EU hat dadurch auf längere Sicht eher an Kohärenz gewonnen, und die Briten werden sich, nunmehr endgültig von einer Projektionsfläche befreit, in der sie Ihre Eigendefizite aller Art zu lange nach Belieben auf andere abwälzen konnten, endlich ernsthaft an die Frage heranmachen müssen, wo sie denn eigentlich stehen in der Welt, und warum, wobei sich gelegentlich das beklommene Gefühl einstellen mag, dass man es mit der EU vielleicht doch einmal besser getroffen hatte als man damals meinte. Aber dieser Zug ist jetzt abgefahren, und das ist vielleicht für alle Beteiligten heilsam.

     Für die Briten war Europa in der Geschichte immer der Kontinent (da drüben), nicht etwa ihr eigener. „Bei uns“ hieß immer Inselperspektive. Gelegentliche emotionale Bindungen mag es gegeben haben, aber nicht etwa wie für die Iren (oder Schotten), sondern immer mit erheblicher Restdistanz, weil man auf der anderen Kanalseite eben nicht zu Hause war und das auch durchaus als besondere Auszeichnung empfand. In die andere Richtung hat es immer wieder Vorstöße von Eindringlingen gegeben, mit denen man sich dann stillschweigend arrangiert hat, wofür die Briten ein großes Talent haben. Aber Einbrecher liebt man nicht und macht auch nicht gerne die erforderlichen Gegenbesuche, geschweige denn, dass man sich etwa mit dieser Bande auf eine Ebene zu stellen bereit wäre.

     Somit war der zuvor lange verweigerte Zutritt zur EG (1973) für die Briten alles andere als eine Genugtuung—ganz im Gegensatz zu den Süd- oder Osteuropäern—sondern ein äußerst unwilliges Eingeständnis, dass es mit der eigenen Größe nicht mehr weit her war. Das war schmerzhaft und wurde in Traditionskreisen entsprechend schnell wieder zurückgezogen, als die Krise der Siebziger überwunden war. Letzten Endes ist es zumindest unterschwellig immer dabei geblieben, dass sich die Briten für diesen Club irgendwie zu gut waren, auch wenn es reichlich unbritisch wäre, so etwas jemals deutlich auszusprechen. Der Brite kommuniziert bekanntlich mit Vorliebe zwischen den Zeilen, und aus diesem Blickwinkel war die Sache immer ziemlich offenkundig, auch wenn es wichtige Ausnahmen gegeben haben mag, ironischerweise gerade im unmittelbaren Vorfeld des Referendums, das von Cameron bekanntlich als endgültiges Erledigungsmanöver gedacht war.

     Nun könnte man Vergleichbares natürlich auch von anderen behaupten—von den Franzosen oder den Dänen, zum Beispiel, um nur zwei besonders augenscheinliche Kandidaten herauszugreifen. Ganz ähnlich wie für die Briten stand die unzweifelhafte Überlegenheit der grande nation in der Eigenansicht eigentlich noch nie ernstlich zur Debatte. Nicht von ungefähr spricht Schopenhauer (in seinen Aphorismen) vielleicht etwas überdeutlich von der nationalen Hochmütigkeit als für Frankreich geradezu bezeichnend: „Am deutlichsten lässt sie sich an den Franzosen beobachten, als bei welchen sie ganz endemisch ist und sich oft in der abgeschmacktesten Ehrfurcht, lächerlichsten Nationaleitelkeit und unverschämtester Prahlerei Luft macht.“

     Andererseits muss man dem französischen Nationalcharakter zugute halten, dass er eine Empfänglichkeit für große Ideen mit sich bringt, die ihresgleichen sucht, und andererseits ein besonderes Talent dafür, eigene Interesse mit dem denkbar größten Zynismus zu betreiben, während man sie gleichzeitig mit dem Deckmantel der hehren Ideale verdeckt. In diesem Sinne lag es nahe (und entbehrte einer gewissen Geschicklichkeit nicht), auf der einen Seite die hohe europäische Idee zu beschwören, diese andererseits als force-multiplier zu nutzen, um sich auf allerlei Wegen, zum Beispiel bei den Agrarzuschüssen, von den anderen (vor allem den Deutschen, eine besondere Genugtuung) in seiner einzigartigen Größe und Geltung subventionieren zu lassen. Das Rezept funktioniert, bedingt, bis heute.

     Dass es sich bei den Dänen (oder auch den Niederländern) um Völker handelt, die sich gerne unterordnen, zumal bei deutscher Clubbeteiligung, wird kein Sachvertrauter ernstlich behaupten können. Aber bei diesen Staaten liegen die Tage der imperialen Größe schon so weit zurück, dass der Normalisierungsprozess weiter fortgeschritten ist als in Frankreich oder Großbritannien (eigentlich vor allem England, mit dem Sonderkapitel Nordirland). Hin und wieder mucken diese mittelgroßen und ähnlich stolzen, aber nicht ganz so auftrumpfenden Nationen ein bisschen auf, aber in der Regel haben sie sich mit ihrer Situation inzwischen ganz gut abzufinden verstanden, und auch die Abscheu vor den ungeliebten deutschen Nachbarn hat im Laufe der Jahrzehnte spürbar abgenommen, wiewohl das Thema nach wie vor nicht ganz erledigt ist. Auch die Skandinavier haben ihre widerborstige Seite und fühlen sich mit den Kontinentalen nicht immer wesensverwandt; aber eine vorbildhafte Gruppenfähigkeit kann ihnen keiner streitig machen, und damit entfallen die ärgsten Konflikte oder werden zumindest gemildert.

     Man könnte dieses Aufstellung lange weiterführen, aber es dürfte hier genügen, ein Grundmuster zu konstatieren. In jenen Staaten wo die EU-Mitgliedschaft trotz aller Tagesbeschwerden letztlich als Aufstiegs- oder Ankunftssymbol gelten kann (und auch oft mit deutlichen materiellen Vorteilen verbunden ist, oder wenigstens war), steht die Sache nicht ernstlich zur Disposition. So zum Beispiel in Italien und Irland, in Spanien und Portugal, oder auch Griechenland, und vor allem in den neueren Mitgliedsstaaten jenseits des alten Eisernen Vorganges. In Österreich wird derweil wie immer auf hohem Niveau geklagt, aber die Lage bleibt vorerst hoffnungslos, ohne deswegen erst zu sein. In Luxemburg ist man zu klein, zu eingebunden und mithin auch zu sehr damit beschäftigt, auf knappstem Raum die üppigsten Geldberge zu verwalten, als dass sich die Frage ernstlich stellen würde, während wiederum in Belgien die internen Brüche zu akut sind, um den externen viel Resonanzraum zu lassen. Auch Zypern und Malta haben andere Sorgen und Nöte, zum Beispiel die Touristenströme zu meistern oder die Flöße aus Nordafrika, die dort immer wieder den Wasserverkehr zu verstopfen drohen.

     Bliebe die deutsche Position, die ich hier (wie die anderen) nur sehr grob anzureißen gedenke—nicht mit dem Anspruch, auf die Büsche und Bäume einzugehen, die dann und wann besonders bunt oder bedrohlich sprießen und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen pflegen, sondern um den großen europäischen Wald zu würdigen (und in den Blickmittelpunkt zu stellen), der den Deutschen besonders am Herzen liegen sollte. Somit erstens, dass der Unsegen der deutschen Mittellage—zu klein und exponiert für den Alleingang, zu groß um den anderen nicht unangenehm zu werden—durch den europäischen Gambit etwa so glücklich gelöst ist wie möglich. Darüber muss man keine Begeisterungschoräle anstimmen, aber man sollte die Dankbarkeit dafür nicht vergessen.

     Zweitens, dass die erheblichen Clubbeiträge, die dabei auf die bessergestellten Mitglieder entfallen, in ihrer Bedeutung gänzlich verzerrt werden, wenn man sie nicht zumindest pro Kopf verrechnet, was die Höhe der deutschen Überweisungen im Verhältnis zu den anderen Nettozahlern erheblich relativiert, zumal bei dergleichen oberflächlichen Rechnungen nicht hinlänglich zur Geltung kommt, in welchem Maße der europäische Exporteur schlechthin von einer (bei allen berechtigten Sorgen und aktuellen Nöten) vergleichsweise konfliktberuhigten Gesamtlage im Unionsgebiet profitiert. In Sachen Marktsicherung war die EU wahrlich kein schlechter Streich für die Deutschen, auch wenn sie es vielleicht nur ungerne so nüchtern sehen.

     Drittens, dass der Euro, zu dessen ökonomischem für und wider man nach wie vor geteilter Meinung sein kann, trotz allem eine Errungenschaft ist, die mehr deutschen Stolz verdient hätte. Sicher, die emotionale Bindung der Nachkriegsmark ist nie wieder erreicht worden, aber das muss ja auch gar nicht sein: man soll Geld nutzen, nicht zu einem Herzensgut machen, zumal die Verherrlichung der Mark viel mit dem Elend zu tun hatte, was vorher kam. Ein derart schmeichelhafte Kontrast ist zu Wohlstandsbedingungen eben nicht mehr zu haben, was aber noch lange keine Grund ist, etwa ins Lamentieren zu verfallen.

     Zum nunmehr bereits 25-jährigen, ziemlich bemerkenswerten Bestehen des Euro wird zugegebenermaßen kaum einer die Korken knallen lassen wollen, dafür bleiben nach wie vor zu viele Fragen offen nach dem Sinn und Unsinn dieser Währung. Ob dieses Riesenwagnis wirklich vernünftig war, zumal ökonomisch, bleibt doch sehr fraglich, wobei allerdings interessant ist, dass ausgerechnet der große Pate des Optimal-Currency-Area-Denkens, Robert Mundell, die Sache meines Wissens nach immer wieder überraschend positiv eingeschätzt hat. Aber darüber kann man sehr unterschiedlich denken, und ich möchte mich an dieser Stelle auf nichts versteifen, weil es mir so komplex und vielschichtig vorkommt.

     Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass diese Währung immerhin überhaupt entstanden ist, was mancher noch Mitte der 90er für völlig undenkbar hielt. Ein damals enger Freund war in dieser Hinsicht so felsenfest überzeugt, dass wir eine Wette um eine Kiste Champagner abgeschlossen haben, und zwar sogar 2:1, so gänzlich sicher war er sich. (Die Satisfaktion hat er mir dann später mit dem Hinweis verweigert, er könne sich an nichts mehr erinnern. Solche Erinnerungsschwächen sind nicht ungewöhnlich, wenn man sich besonders gründlich geirrt hat, ändern aber nichts an den Tatsachen samt daraus entstehender Ehrenschulden.) Im weiteren Verlauf hat der Euro dann allen Unkenrufen zum Trotz immerhin ein ziemlich krisengerütteltes Vierteljahrhundert überstanden, was ebenfalls alles andere als selbstverständlich war. (Der erwähnte Verweigerer hätte diese Entwicklung für so undenkbar gehalten, dass er mir dafür 10:1 oder 100:1 geboten hätte. Und er schrieb damals immerhin an einer Thesis zu diesem Thema herum, und zwar in Oxford.)

     Schließlich mag man dem Euro vieles entgegenhalten, nur sicher nicht, dass es dem ungeliebten Kinde ausgerechnet an deutscher Prägung gebricht. Die Sache hatte viele Väter, nicht nur Jacques Delors, aber die eindeutige deutsche Mutterschaft—also das durch und durch nachkriegsteutonische Währungs- und Ordnungsverständnis—ist praktisch an jedem Gesichtszug abzulesen. Diese Züge mögen einem gefallen oder nicht, aber zu bestreiten, dass der Apfel wahrlich nicht weit vom Stamm gefallen ist, wäre nachgerade realitätsblind, und wenn der Spross denn nun im stattlichen Mannesalter angekommen ist, sollte ihm dann gerade die Mutter die Anerkennung verweigern?

     Ein mir besonders nahestehender amerikanischer Kollege, ein dezidierter Kantianer des schönen Namens Joe Wagner (und jüdisch noch obendrein), hat mir den Euro sogar einmal als nicht nur geradezu die Verwirklichung eines kategorischen Imperativs präsentiert, sondern mehr noch, die für mich etwas zweifelhafte Gestaltung der Geldscheine als die grafische Versinnbildlichung des kantischen Weltbildes gepriesen, mit den Architekturperioden als Achse Zeit und den Brücken als Achse Raum. Das man das auch nur andenken kann, ohne lächerlich zu wirken, kommt mir allerhand vor!

     Zu guter letzt noch kurz die Souveränitätsfrage, die so gerne talismanisch beschworen wird, als ließe sie keinen Widerspruch zu, ohne geradezu Verrat an nationalen Belangen zu begehen. Einerseits verschleiert diese Formel bei aller Gängigkeit die Tiefe der gegenseitigen Abhängigkeiten in Europa; mehr formale Souveränität zurückerobern heißt eben keineswegs unbedingt mehr realen Bewegungsspielraum gewinnen. Anderseits wird dabei verwischt, dass unklare Verhältnisse in dieser Hinsicht weder besonders ungewöhnlich noch notwendigerweise unvorteilhaft sein müssen.

     Die Hoheit der Union über die angeblich Vereinigten Staaten von Amerika ist zum Beispiel auch viel heikler und zweifelhafter, als es den Anschein haben mag, zumal wenn man sich für die ursprüngliche Verfassungsidee interessiert, statt sie womöglich für überholten Unsinn zu halten. Und wenn man in der Alten Welt noch etwas weiter zurückgreift, stößt man fast unweigerlich auf das sogenannte Heilige Römische Reich, das bekanntlich weder römisch noch besonders heilig, und vor allem auch kein wirkliches Reich war, dafür aber mit Ambiguitäten hervorragend umzugehen wusste, und zwar gerade in Sachen Souveränität, während die verheerendsten Konsequenzen gerade dann provoziert wurden, wenn der Versuch gemacht wurde, klare Verhältnisse zu schaffen—man denke an die Entstehungs- und furchtbare Leidensgeschichte des Dreißigjährigen Krieges. (Besonders treffend thematisiert übrigens im Economist vom 22. Dezember 2012, unter dem wunderbaren Titel „European disunion done right.“)

     Um zu einem abschließenden Urteil zu kommen, reichen derlei allgemeine Überlegungen natürlich bei weitem nicht aus; aber darum kann es hier auch gar nicht gehen, sondern nur darum, die gängigen Schmähungen wenigstens ein Stück weit zu korrigieren und gelegentlich einen Blick auf das Große an Europa zu richten, worauf man bei allem Unmutsrummel ein bisschen stolz sein könnte. Natürlich liegt bei näheren Hinsehen auch immer viel im Argen, bis hin zu regelrechten Widrigkeiten und gelegentlichen Katastrophen. Aber wie könnte es auch anders sein, ob in der EU oder irgendwo sonst in unserer menschlich-allzu-menschlichen oder womöglich gar gefallenen und sündengeplagten Welt.

 
 

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