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Post #186: Oh du schöne neue Welt von 2025! [German]

  • Writer: Daniel Pellerin
    Daniel Pellerin
  • Dec 8, 2022
  • 7 min read

Updated: Nov 2

9. Juni 2025

 

     Wir leiden nicht an den Dingen selbst, konstatiert Epictetus ganz richtig, sondern unter unseren eigenen Vorstellungen. Alles was uns beschwert kann dementsprechend so oder so angegangen werden: packt man es am falschen Griff, wird es schnell unerträglich—aber glücklicherweise geht es auch immer anders.

     Statt zum Beispiel einem Spielverderber wie Neil Postman vierzig Jahre lang die alte Leier nachzujammern, dass man sich auch zu Tode amüsieren kann, sollten wir uns endlich etwas besseren besinnen. Auf in die schöne neue Welt, dalli-dalli! Der Unterhaltungswert der Politik steigt nämlich stetig, und damit ist das Wesentliche auch schon gesagt. Was kümmert uns das dumme Gelehrtengeschwätz von gestern?

     Mehr als sieben quälend öde Jahrzehnte lang geht in der bleichen Bundesrepublik Deutschland jeder neue Kanzler glatt im ersten Wahlgang durch. Dann wird endlich mal ein bisschen Abwechslungsprogramm geboten, als Friedrich Merz unerwartet durchfällt, und wie reagiert die versammelte Gemeinde? Statt sich über das ungewohnte Fünkchen Spannung und anregender Rätselhaftigkeit (wer es wohl gewesen sein könnte) zu freuen, bricht ein Wehgeschrei aus, als stünde das Ende aller Tage ins Haus. Reinster Undank, könnte man sagen. Glatt durchgefallen, ein Jahr zurück!

     Überhaupt Kanzler Merz. Nach der biederen Mutti Ost, dem farblosen Väterchen Nord und dem ewig renitenten Onkel Süd, endlich wieder das Nostalgiemodell West-West, wenn auch unter völlig veränderten Umständen. Statt schläfrig-gemütlichem Bonn jetzt feinstes Sauerländer Kasperletheater—eine köstliche Patsche nach der anderen (zur besseren Unterhaltung untermalt von besonders großspuriger Kompetenzrhetorik) und vor allem immer ordentlich draufgehauen, sei es mit dem Teppichklopfer oder der Bratpfanne. Was waren dagegen schon die Kabelleien im Zeichen der Ampel? (Wobei nebenbei auffällt, wie relativ diszipliniert sich inzwischen die Grünen verhalten, die ehemals als Stänkerkinder der Politik angetreten sind. Im Unterhaltungswert ein Verlust, aber immerhin eine beachtliche Reifeentwicklung.)

     Es liegt doch auf der Hand, dass fähiges Regieren denkbar unwitzig und letztlich auch nicht sonderlich interessant ist. Wer will schon spuren oder braves Rädchen sein in einem leidlich geschmierten Motor? Ein frohes Volk will vor allem lachen und sich über die Mächtigen von seinen Gnaden erhaben fühlen. Höchste Zeit, dass auch die Deutschen das befreite Mitlachen über die vergnügliche Seichtigkeit des Seins erlernen, dass Ihnen schon viel zu lange durch ihre kulturimmanenten Tiefenbestrebungen verschlossen geblieben ist. Die Streber von gestern kommen schleunigst in den Nachhilfekurs, denn wer zu spät kommt den bestraft bekanntlich das Leben, gerade in Deutschland! (Bei diesem dringlichsten aller neuer Bildungsangebote der bewährten Umerziehungsanstalt BRD blende ich die derzeitigen „Alternativen“ besser aus, weil sie im Gegensatz zur klassischen alternativen Szene der 70er und 80er Jahre für humoristische Zwecke kaum zu verwerten sind.)

     A propos Nachhilfe und Bildungsanstalten sei unseren gelehrten Leuten in ihr dickes Buch geschrieben, dass es nicht etwa verwerflich sondern genial ist, sich bei der todlangweiligen Diskussion um Handelsfragen über die elende Lehrbuchakribik hinwegzusetzen. Wer interessiert sich bitte für Ricardo? Die Ewigklugen, die immer meinen alles besser zu wissen, sollen mal versuchen, comparative advantage vor laufenden Kameras überzeugend zu erklären! Ich wünsche den Vortragenden viel Spaß; die Zuschauer werden jedenfalls keinen Gefallen daran finden. Wenn man Handelsströme hingegen als eine Art kollektiven Volkssport auffasst und auf leicht greifbare Plus- und Minuspunkte reduziert, dann sieht es sofort ganz anders aus. Dass sich hinter den vermeintlichen “Defiziten” lauter Transaktionen verbergen, die beide Parteien willentlich und zum gegenseitigen Vorteil eingegangen sind, mit ebenso korrekten wie ausgeglichenen Lieferungen und Bezahlungen, mag zwar stimmen, ist aber unterhaltungstechnisch wertlos, also irrelevant.

     Immer wieder liest man von vermeintlich peinlichen Szenen mit Selenskyj im Weißen Haus. So ein Quatsch! Man könnte vielleicht geschmacklichen Anstoß nehmen am plebejisch-martialischen Aufzug, in dem der Ukrainer auf Staatsbesuch zu gehen pflegt. Richtungsweisend dabei allerdings die subtile ironisch-postmoderne Nuance. Mit der echten Garderobe eines ukrainischen Frontkämpfers hat das ganze nämlich wenig zu tun. Stattdessen handelt es sich anscheinend um sonderangefertigte Designerware, die dem Soldatischen nur nachempfunden ist. (Was wollen sie bitte? Der Mann ist Schauspieler, nicht Grabenschütze, und er geht in dieser Rolle auf. Soll er im blutigen Kampfanzug auf dem diplomatischen Parkett herumtrampeln? Würde er glatt machen, wenn es die Regieanweisungen zuließen.)

     Im übrigen hatte Churchill ja auch seinen eigenwilligen Strampelanzug, wobei er zugegebenermaßen in der Öffentlichkeit immer sehr korrekt angezogen, in seinen Privatquartieren hingegen oft überhaupt nicht bekleidet war. So zum Beispiel bei seinem Washingtonbesuch unter noch viel prekäreren Kriegsumständen im Dezember 1941. Als Roosevelt damals spontan beim Gästezimmer des Weißen Hauses angeklopft hat, nahm der freizügige halbe Amerikaner (Mutter Schönheitskönigin aus Brooklyn, die noch mit über sechzig einen zwanzig Jahre jüngeren dritten Mann zur Ehe verführen konnte) den ganzen Amerikaner mit einem Whiskeyglas in der einen Hand und einer Zigarre in der anderen in Empfang. Sonst trug er gar nichts: “You see, Mr. President, I have nothing to hide.” Nach anfänglichem Zögern sollen die beiden sich dann über eine Stunde lang sehr angeregt unterhalten haben. Da hat Selenskyj noch einiges zu lernen.

     Statt den ewigen Unsinn von angeblichen Blamagen nachzufaseln erkennt jeder einigermaßen unterhaltungsversierte Zuschauer sofort die Richtigkeit der Diagnose, die King Donald gleich selbst abgegeben hat: großartiges Fernsehen war das! Und als dann unser glücklos tapferes Kasperle sich anschickt, im fernen Washington endlich auch einmal Großes zu bewegen, kommt ihm (wie könnte es anders sein) just in der Pressekonferenz die ultimative Beziehungskrise Trump-Musk in die Quere. (Wie jetzt? War nicht gerade noch die Rede von der ganz großen Liebe? Aber das soll bei echten Beziehungskisten angeblich häufiger vorkommen.)

     Als ewiger Straight Man in der Komödie des Lebens ist unsere Altneuer Fritz (allemal ein langer Kerl!) jedenfalls unschlagbar. Wer könnte es nicht liebhaben, dieses säuerlich verzogene Gesicht des ewig von neuem überraschten Verlierers (man denke an Charlie Brown und Lucys football), zumal wenn die Hirnmasse weiter oben geradezu aus dem Schädel zu quillen scheint. Somit ein völlig anderes Niveau als bei den üblichen Erfolgstypen, die uns aus allen Richtungen entgegenstrahlen, dabei den Ball selbstgefällig flach haltend, um sich nur keine Blöße zu geben. Die Triumphgebaren anderer sind schließlich bestenfalls dann erträglich, wenn die Sieger wenigstens unterwegs ein paar Mal ordentlich ausgerutscht oder gestrauchelt sind. Zumindest in dieser Hinsicht kann man sich auf unseren Friedrich unbedingt verlassen.

     Dass die Qualität der europäischen Produktion bei alledem mal wieder nicht mit der amerikanischen konkurrieren kann, ist zwar bedauerlich, aber gerade in der Entertainmentbranche nichts Neues und braucht hier nicht vertieft zu werden. Immerhin bietet sich auf der Fernseite des Channels das faszinierende Spektakel eines verzweifelten Ausbruchsversuchs aus einem ganzen Kontinent, was schon bemerkenswert genug wäre, wenn eine der ältesten Parteien der Welt nicht außerdem nach dem Verschleiß diverser Premierminister im Rekordtempo nunmehr im Begriff wäre, sich zuletzt auch noch selbst zu schleifen bzw. von einem Unterhaltungstalent erster Güte praktisch im Alleingang restentsorgt zu werden. Applaus, Applaus!

     Am diesseitigen Kanalufer pflegte Charles de Gaulle zu räsonieren, dass ein Land mit mehr als dreihundert Käsesorten seinem ganzen Wesen nach eigentlich unregierbar sei—eine farbenfreudige und geruchsschöne These, die immer wieder historische Bestätigung gefunden hat. Die Erste Republik scheiterte immerhin noch unter Krach und Donner von Guillotinen und Napoleons Kanonen; bei der Zweiten ist es schon nur noch der Neffe, und was mal als Tragödie begonnen hat wiederholt sich als Farce, wie Marx es so treffend formuliert hat. Dann schleppt sich die Dritte Republik von der demütigenden Niederlage (1870) zur verheerenden (1940) und die Vierte greift das leidige Vorkriegsthema mit unwesentlichen Variationen wieder auf, faute de mieux.

     Aber dann, hallo! Der Pseudo-Putschist de Gaulle 1958 mit Fallschirmjägern in Reserve auf Corsica: alle Achtung, das hatte auf einmal wieder verlorengeglaubtes, fast revolutionäres Format, bis sich dann auch die Fünfte Republik nach ein paar vielversprechenden Jahrzehnten (Monsieur Mitterand, wahrlich ein begnadeter Entertainer!) in systematischer Langeweile erschöpft hat—sagen wir gegen 2012, als die Bravourperformance des Hoffnungsträgers Strauss-Kahn in den Hotelbetten aller Welt mit Vorgriff auf das puritanische nächste Jahrzehnt vor einer Schlafmütze kapitulieren musste, die zu allem Überfluss auch noch nach den krämerischen Nachbarn und protestantischen Rivalen im Flachland benannt war (wo die Horizontale allerdings angeblich besonders hochgehalten wird, verlautet es aus verlässlichen Kreisen).

     Traurige Zeiten jedenfalls für Marianne. (Das Thema Marine ist inzwischen so altbekannt und gründlich durchackert, dass es zu Unterhaltungszwecken nicht mehr zu gebrauchen ist.) Erst seit kurzem brennt die Luft zumindest ein kleines bisschen und man darf bei einem Besuch in der Assemblée Nationale wieder leise hoffen, dass im Laufe des Tages vielleicht doch mal wieder eine Regierung oder ein Regime abgesägt wird wie in guten alten Zeiten als die ehrhaften Bouquinisten von Paris keine Verfassungstexte vertreiben wollten weil unseriöse Tagesliteratur.

     Um Italiens hehres Unterhaltungserbe steht es dieser Tage vergleichsweise bescheiden, aber das hat mit besonders hohen historischen Standards zu tun. Immerhin bringt die postfaschistische Duftnote eine Spur von Frisson in die Sache. Außerdem sieht die Herzdame relativ gut aus, jedenfalls für eine Politikerin, wird in Washington und anderswo hoch gehandelt und heißt nach einem Kürbisgewächs. Zugegeben, der Kreuzfahrtinterpret mit seinen rauschenden Bunga-Bunga-Parties hatte deutlich mehr Nero zu bieten, aber man kann schließlich nicht alles haben. Und was in Rom derzeit unter historischem Niveau abläuft wird leicht durch das wohlklingende Schnarren der verbalen Kettensägen kompensiert, die aus Buenos Aires in unverkennbar italienischem Akzent in alle Welt hinausgedröhnt werden. (Die Pietät gebietet, derlei Überlegungen auf die weltliche Ebene zu beschränken und wenigstens den Vatikan und die Verstorbenen auszusparen, zumal in Kombination.)

     Für Wien gilt seit längerem besser Kurzweil als Langweil, aber dass dort eine neue Blütezeit des politischen Entertainments angebrochen ist seitdem Fußball passé ist und der Nationalkicker seine berüchtigten Schienenbeintritte stattdessen polemisch austeilt, ist wohl unbestreitbar. Trotzdem mögen das aus Vogelperspektive bloße Bagatellbestände sein, denn in Wien (nur Du allein) liegt die Latte traditionell unvergleichlich höher als anderswo, wenn es um politisches Theater geht. Spitze Zungen behaupten ja sogar bisweilen, dass es sich bei dieser entzückenden Metropole überhaupt weniger um eine Stadt als um eine aufwendige Inszenierung handelt—man denke an den „hochbarocken” Michaelistrakt von 1890 oder das „gotische“ Rathaus, das auch kaum ein paar Jährchen älter ist.

     Mit dem legendären Bürgermeister Lügner (oder wie er noch gleich hieß) und seinen Erben ließe sich ebenfalls mancher Schalk treiben, aber das mag der politische Anstand verbieten, obwohl die Frage berechtigt ist, inwieweit solche Befreiungen vom Spott die Ernsthaftigkeit wirklich befördern. Froh zu sein bedarf es angeblich wenig, witzig zu sein schon viel mehr, und wenn man es dann auch noch bewusst darauf anlegt, wird es schnell anstrengend. Also schleunigst zum Resümee: dass die Lage in Wien wie in der schönen neuen Welt überhaupt wiedermal ziemlich hoffnungslos aber nicht ernst aussieht—jedenfalls bis es doch mal wieder bitter wird, was auch schon vorgekommen ist—mag man belächeln, bedauern oder begrüßen. So oder so liegen Lachen und Weinen in unserer irdischen Tragikomödie wohl nicht so weit auseinander, wie wir oft meinen—auch das eine Einsicht, die wir über Papa Freud dem ewigen Wien verdanken.

 
 

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Daniel Pellerin

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